Interaktive Medien

Beobachtung eines Schachspieles

Gestern setzte ich mich, in der Hoffnung einen Mitspieler zu finden, an das öffentliche Riesenschachbrett nahe des Stadtgartens.
Hier spielte bereits eine kleine Familie; Mama, Papa, Kind.
Die Eltern waren vielleicht Anfang 40, gut gekleidet, braun gebrannt, mit schicken Brillen; zudem gefärbte Haare und von oben bis unten volltätowiert.
Das Kind, ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, hatte lange, rote Haare, und trug ein schwarzes Bandshirt.
Angenehme Zeitgenossen dachte ich, der Umgang schien locker und cool, und ich entschied mich, mich so zu setzen, dass ich still am Geschehen Teil haben konnte.
Das Kind spielte gegen den Vater, die Mutter unterstützte es dabei.
Mir fiel auf, dass König und Dame auf einer Seite falsch herum aufgestellt waren. Damen und Könige standen sich also gegenüber – das ist so nicht richtig – doch ich unterließ es, mich einzumischen, da ich natürlich keinesfalls vor dem Kind das Wissen der Eltern in Frage stellen wollte.
Der Sohn war damit beschäftigt herauszufinden, wie das Pferd laufen darf, zwei nach vorne eins zur Seite, suchte immer wieder die Bestätigung, ob das Pferd so laufen darf; “eins, zwei – drei – so?” und wusste auch nicht, dass es über andere Figuren springen kann. Auch, dass ein Bauer nur seitlich ziehen darf, wenn er dort eine Figur schlägt, war nicht bekannt.
Die Mutter bekräftigte immer wieder, dass der Sohn wohl schon zu lange nicht mehr gespielt hätte. Es erschien mir fast, als sagte sie dies nicht nur, um das Selbstwertgefühl des Sohnes aufzubessern, sondern auch für mich, damit ich nicht den Eindruck bekäme, dass der Sohn kein Schachgenie sei.
Der Vater verlangte von seinem Sohn zwei bis drei Züge im Voraus zu denken. Das ist etwas, was man erst mit einiger Schacherfahrung machen kann. Mir schienen seine Vorschläge auch nicht die besten gewesen zu sein, doch den drei Beteiligten schien klar zu sein: Papa muss es wissen.
Dies überforderte das Kind. Es schien mit der Zeit immer mehr die Lust zu verlieren, es driftete ab, verlor an Aufmerksamkeit, schwenkte seinen Kopf hin und her, setzte sich hin und blickte mit dem Gesicht in die Hände gestützt auf den Boden, oder verließ das Feld.
Mir schien nun auch, dass die Lockerheit der Eltern nicht ganz echt war. Die Mutter versuchte gemeinsam mit ihrem Kind sich dem Vater gegenüber beweisen zu wollen, und kam, bei allem Zurücklehnen, Beine übereinanderschlagen und Sonnenbrille, ins Schwitzen. Der Vater schien überzeugt von seinen Vorschlägen für das Kind, die aber so kompliziert waren, dass sie beim Kind nicht ankamen. Er war zu sehr damit beschäftigt sein Wissen zu beweisen, als dass er das Kind dort hätte abholen können wo dessen Wissensstand tatsächlich war. Er schien in einer Rolle als Allwissender gefangen.
Eine schreckliche Dynamik.

Sowohl das Lernen als auch das Vermitteln von Wissen macht Freude, wenn es interessant ist, wahr, und vielleicht sogar positiv und / oder hilfreich.
Echtes Verständnis für oder von seinem Gegenüber ist sogar noch schöner, etwas ganz wunderbares. Das Gefühl, verstanden zu werden, oder jemandem dieses Gefühl geben zu können. Es begeistert, schafft Vertrauen, verbindet.
Besserwisserei hingegen ist ätzend – sie löst zu leicht Stressgefühle aus – sehr unschön. Auch zeugt es von einem mangelhaftem Selbstwertgefühl, sich so zu profilieren.
Dieses “Lehrerhafte” steht gänzlich im Kontrast zu echtem Verständnis oder echter Unterstützung.
Es ist asymmetrische Kommunikation – “Mansplaining” – ein Überrest überholter Geschlechterrollenmodelle.
Man identifiziert sich damit “wissend” zu sein, und vielleicht ist es garnicht mehr als das.
Ich kenne auch Frauen, die versuchen, durch Ihren Wissensschatz zu glänzen, mit dem Zweck, hierdurch Status oder Akzeptanz zu erlangen.
Egal welches Geschlecht, es hat immer den selben Effekt: man bringt damit das Umfeld in die unangenehme Situation die eigene Unsicherheit zu erkennen, womöglich fangen diese dann an zu applaudieren, weil eigentlich der/die “Angeber/in” Bestätigung zu suchen scheint. Aber das sei es nicht, man möchte “nur helfen”. Womöglich applaudiert dann der “Angeber” den “Unwissenden” um sich herum, gibt ihnen das Gefühl, sie zu unterschätzen, stuft sie unter sich ein. Daran ist alles sehr unangenehm.
Man kann es überwinden, indem man aufhört sich mit seinem Wissen zu identifizieren und indem man versteht, dass diese Art der Profilierung nicht hilfreich sondern übergriffig ist. Dass es der Versuch einer Kompensierung eines eigenen Mangels an Selbstwert ist.
Natürlich ist es praktisch, intelligent zu sein. Aber Intelligenz hat so viele verschiedene Gesichter, man kann das von Person zu Person kaum vergleichen. Was soll’s auch.
Jeder Mensch ist ein Genie, weil jeder einzelne Mensch die einzige Person ist, die das erlebt hat, was sie erlebt hat.
Anders betrachtet könnte man auch sagen, dass alle Menschen gleichermaßen unendlich dumm sind.

Szene aus “Everything, Everywhere, All At Once”, in der Mutter und Tochter über das Wissen philosophieren

Nachtrag: Ganz begriffen habe ich diese Asymmetrie noch nicht. Es kann vielleicht auch passieren, dass sich jemand jemandem anderen gegenüber selbst unterordnet, und dieses Ungleichgewicht hierdurch ensteht.
Es hat vielleicht auch etwas damit zu tun, sein Gegenüber zu unterschätzen, oder zu überschätzen. Oder sich selbst zu unterschätzen, oder zu überschätzen. Wahrscheinlich läuft man weniger Gefahr in dieses Ungleichgewicht zu geraten, je besser man sich versteht.