Archivtext vom 12.12.1997
Le Monde diplomatique
Die Märkte entschärfen
Von
IGNACIO RAMONET
DER Taifun über den Börsen Asiens bedroht auch den Rest der Welt. Die Globalisierung des Finanzkapitals verunsichert die Menschen: Sie umgeht und demütigt die Nationalstaaten als die maßgeblichen Garanten von Demokratie und Allgemeinwohl.
Zudem haben die Finanzmärkte sich längst einen eigenen Staat geschaffen, einen supranationalen Staat, der über eigene Apparate, eigene Beziehungsgeflechte und eigene Handlungsmöglichkeiten verfügt. Es handelt sich um das institutionelle Viereck aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank, Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Welthandelsorganisation (WTO). Unisono preisen diese Institutionen die “Tugenden des Markts” – was von allen großen Medien nachgebetet wird.
Dieser Weltstaat ist ein Machtzentrum ohne Gesellschaft. An deren Stelle treten immer mehr die Finanzmärkte und die Riesenkonzerne, die der Weltstaat repräsentiert. Die Folge ist, daß die real existierenden Gesellschaften keinerlei Macht mehr besitzen.(1) (Siehe hierzu das Dossier über die internationale Finanzkrise, Seiten 12 bis 15)
Als Nachfolgerin des Gatt ist die WTO seit 1995 zu einer Organisation mit supranationalen Befugnissen geworden, die keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegt. Sie kann verkünden, daß nationale Gesetze in Sachen Arbeitsrecht, Umweltschutz oder Gesundheitswesen “der Freiheit des Handels entgegenstehen”, und ungehindert deren Abschaffung fordern.(2) Im übrigen wird in der OECD seit Mai 1995 (von der Öffentlichkeit kaum beachtet) der äußerst wichtige multilaterale Investitionsvertrag ausgehandelt, der 1998 zur Unterzeichnung ansteht. Er zielt darauf ab, Investoren gegenüber nationalen Regierungen umfassende Rechte zu sichern.
Will man verhindern, daß die Welt sich im 21. Jahrhundert endgültig in einen Dschungel verwandelt, in welchem die Räuber den Ton angeben, wird die Entwaffnung der Finanzmächte zur ersten Bürgerpflicht.
1400 bis 1500 Milliarden Dollar wandern mehrmals täglich – meist im Zehnminutentakt – auf den Devisenmärkten hin und her; es wird auf Schwankungen im Devisenkurs spekuliert. Diese Instabilität der Wechselkurse ist eine der Hauptursachen für das hohe Niveau der (inflationsbereinigten) Realzinsen, das die Kaufkraft der Privathaushalte sowie die Investitionsfreudigkeit der Unternehmen dämpft. Sie sorgt dafür, daß die Staatshaushalte immer weiter ausgehöhlt werden; die Pensionsfonds, die mit Hunderten Milliarden Dollar hantieren, dringen bei den Unternehmen auf immer höhere Dividenden: Ihre Aktienpakete sollen mindestens so rentabel sein wie die staatlichen Obligationen. Die Lohnabhängigen sind die Hauptleidtragenden dieser Jagd nach Profit, denn wenn sie massenhaft entlassen werden, gehen die Börsenkurse ihrer ehemaligen Arbeitgeber in die Höhe.
Wie lange können die Gesellschaften dies alles noch hinnehmen? Es wird höchste Zeit, diesen zerstörerischen Kapitalbewegungen Sand ins Getriebe zu streuen. Das ist auf dreierlei Weise möglich: über die Abschaffung der “Steuerparadiese”, über die höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften und über eine allgemeine Besteuerung der Finanztransaktionen.
STEUERPARADIESE sind bekanntlich Gebiete, in denen das Bankgeheimnis dem einzigen Zweck dient, Unterschlagungen zu vertuschen, schmutzige Gelder aus dem Drogenhandel und anderen mafiösen Geschäften zu waschen, sowie Steuerflucht, geheime Zuwendungen und so weiter zu ermöglichen. Hunderte Milliarden Dollar werden so jeglicher Besteuerung entzogen – im Interesse der Mächtigen und der Finanzunternehmen. Alle Großbanken der Welt haben Filialen in “Steuerparadiesen” und ziehen aus ihnen große Profite. Ließe sich nicht ein Finanzboykott von Gibraltar, den Kaimaninseln oder Liechtensteins durchsetzen, indem man Banken, die mit öffentlichen Stellen zusammenarbeiten, untersagt, dort Filialen zu eröffnen?
Die Besteuerung der Finanzeinkünfte ist eine demokratische Minimalforderung. Diese Einkünfte sollten genauso hoch besteuert werden wie die Einkünfte aus Lohnarbeit, was freilich nirgends der Fall ist, schon gar nicht in der Europäischen Union.
Die völlig freie Kapitalzirkulation untergräbt die Demokratie. Deshalb müssen Abschreckungsmechanismen installiert werden. Der bekannteste dieser Mechanismen ist die “Tobin- Steuer”, benannt nach dem Nobelpreisträger für Ökonomie James Tobin. Er hatte 1972 angeregt, in bescheidenem Umfang alle Transaktionen auf den Devisenmärkten zu besteuern, um diese zu stabilisieren und gleichzeitig Einkünfte für die Staaten und die Internationale Gemeinschaft zu schaffen.
Bei einem Satz von 0,1 Prozent würde die Tobin-Steuer jährliche Einkünfte von rund 166 Milliarden Dollar einbringen – das Doppelte der jährlich benötigten Summe, um die extreme Armut bis zur Jahrtausendwende abzuschaffen.(3)
Zahlreiche Experten haben gezeigt, daß die Einführung dieser Steuer keinerlei besondere technische Schwierigkeit bereiten würde.(4) Ihre Anwendung würde lediglich dem liberale Credo der Regierungen, des supranationalen Staates von Weltbank-IWF-OECD-WTO und der großen Finanzinstitutionen zuwiderlaufen, die unentwegt predigen, daß es zum aktuellen System keine Alternative gebe.
Warum nicht eine weltweite regierungsunabhängige Organisation namens “Aktion für eine Tobin-Steuer als Bürgerhilfe” (Action pour une taxe Tobin d’aide aux citoyens – Attac) ins Leben rufen? Im Verein mit den Gewerkschaften und den zahlreichen Organisationen, die kulturelle, soziale oder ökologische Ziele verfolgen, könnte sie gegenüber den Regierungen als gigantische Pressure-group der Zivilgesellschaft auftreten, mit dem Ziel, endlich wirksam eine weltweite Solidaritätssteuer durchzusetzen.
Fußnoten:
(1) Vgl. André Gorz, “Misères du présent, richesses de l’avenir” Paris (Galilée) 1997.
(2) Vgl. François Chesnais, “La Mondialisation du capital”, Paris (Syros) 1997, zweite, erweiterte Auflage.
(3) “Rapport sur le développement humain 1997”, Paris (Economica) 1997.
(4) Vgl. das völlig unbeachtet gebliebene Buch von Mahbub Ul Haq, Inge Kaul und Isabelle Grunberg, “The Tobin Tax: Coping with Financial Volatility”, Oxford University Press 1996. Außerdem: Ibrahim Warde, “Die Tobin-Steuer, ein wenig Sand im Getriebe”, “Le Monde diplomatique, Februar 1997.
Le Monde diplomatique Nr. 5406 vom 12.12.1997, Seite 1, 185 Dokumentation, IGNACIO RAMONET
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